Mitte der 1940er Jahre, ein Dorf irgendwo in Ungarn: Eine junge Frau, Anfang 20, verdingt sich als Magd. In ihrer Freizeit geht sie heimlich ans Ufer der Donau und turnt. Sie träumt von den Olympischen Spielen. Und sie lebt unter falscher Identität. Denn das ist ihre einzige Chance, den mordenden Nazis zu entkommen - und ihre Vision von Olympiagold zu verwirklichen.
Agnes Keleti hat beides geschafft: Sie hat den Holocaust überlebt und sich danach fünfmal zur Olympiasiegerin im Turnen gekürt. In Israel wurde sie später zu einer Pionierin ihres Sports; sie ist Mitglied der International Gymnastics Hall of Fame. Bis zuletzt war sie die älteste lebende Olympiasiegerin der Welt. Am Donnerstag starb Agnes Keleti im Alter von 103 Jahren.
Orban: "Danke für alles!"
Der ungarische Premierminister Viktor Orban postete auf Facebook ein Bild Keletis mit den Worten: "Danke für alles! Gott sei mit dir!" An Weihnachten war Keleti wegen einer Lungenentzündung in ein Krankenhaus in Budapest eingeliefert worden. Ihr Pressesprecher bestätigte der Nachrichtenagentur AFP den Tod der einstigen Ausnahmeathletin.
Am 9. Januar hätte ihre Familie mit Keleti deren 104. Geburtstag feiern wollen. Vital und beweglich war Keleti auch im hohen Alter, angetrieben von "unglaublicher Energie", wie ihr Sohn Rafael Biro-Keleti sagte. Den Spagat beherrschte sie wie zu ihren besten Tagen, als sie 1952 in Helsinki und 1956 in Melbourne insgesamt fünfmal olympisches Gold gewann. Doch ihren sportlichen Triumphen vorausgegangen war ein Leben voller Entbehrungen - und Todesangst.
Angehörige in Auschwitz-Birkenau verloren
Am 9. Januar 1921 war Agnes Keleti als Agnes Klein in Budapest als Kind einer jüdischen Familie zur Welt gekommen. Olympia 1940 war das erste große sportliche Ziel der talentierten Turnerin. Doch die Spiele fanden wegen des Zweiten Weltkrieges nicht statt. Stattdessen wurde Keleti wegen ihres Glaubens aus ihrem Turnverein ausgeschlossen. Dem Morden der Nazis entkam sie, weil sie mit falschen Dokumenten die Identität einer jungen Christin annahm.
"Ich sah dem Mädchen, das Piroschka hieß, schon ähnlich. Aber ich musste auch so sprechen, wie sie gesprochen hatte, und das war schwer", erinnerte sich Keleti einst. Ihr Vater und weitere Verwandte starben im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.
Vorkämpferin des Kunstturnens
Als Keleti Jahre später ihre großen sportlichen Siege feierte und dabei auch die legendäre sowjetische Turnerin Larissa Latynina bezwang, war sie bereits über 30 - und somit deutlich älter als viele ihrer Konkurrentinnen. Nach den Spielen in Melbourne blieb Keleti wegen des gescheiterten antisowjetischen Aufstands in ihrer Heimat in Australien und zog kurz darauf nach Israel.
Dort wurde sie zu einer Vorkämpferin des Kunstturnens: Sie arbeitete jahrelang als Trainerin der israelischen Nationalmannschaft; 2017 erhielt sie den Israel-Preis, die höchste Kulturauszeichnung des Staates. Erst in ihren letzten Lebensjahren zog Keleti wieder dauerhaft nach Ungarn zurück.
"Angesichts der Aufmerksamkeit, die mir zuteilwurde, hat es sich gelohnt, im Leben etwas Gutes zu tun", sagte Keleti anlässlich ihres 100. Geburtstages im AFP-Interview: "Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich all die Artikel sehe, die über mich geschrieben werden."