Lang, schnell oder clever? Die Kunst des Einwurfs – und wie daraus eine Waffe wird

Arsenals Riccardo Calafiori führt einen langen Einwurf aus.
Arsenals Riccardo Calafiori führt einen langen Einwurf aus.Matt Impey / Shutterstock Editorial / Profimedia

Der Einwurf ist wohl die am meisten unterschätzte Standardsituation im Fußball. Doch das könnte sich bald ändern. Flashscore hat sich mit Thomas Gronnemark unterhalten – dem Coach, der Liverpools Herangehensweise unter Jürgen Klopp revolutioniert hat. Und der außerdem immer noch den Guinness-Weltrekord für den längsten Einwurf hält. Seine Fachkenntnis zeigt, wie Spitzenteams aus dem scheinbar belanglosen Einwurf eine echte Offensivwaffe machen. Bis zu 60 Einwürfe finden pro Match – die Beherrschung dieses scheinbar "kleinen Details" kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Früher – da war der Einwurf ein ganz normaler Teil des Fußballspiels. So häufig kam er vor, dass selten darüber nachgedacht wurde. Der Ball rollt über die Linie – also schnappt ihn sich ein beliebiger Spieler und wirft ihn rasch zurück aufs Feld. Kein großes Ding.

In den vergangenen Jahren haben jedoch Trainer, Analysten und Fachleute damit begonnen, immer tiefer in die Feinheiten des Fußballs einzutauchen. Kaum ein Detail ist im Milliardengeschäft noch verborgen – sodass sich auch der Stellenwert des Einwurfs drastisch verändert hat.

Einwürfe immer wichtiger

Einst reine Nebensache, werden Einwürfe mittlerweile gezielt trainiert, analysiert und als Offensivwaffe eingesetzt. Denn viele Coaches betrachten ihn als Standardsituation, die – insofern gut ausgeführt – ebenso viel Gefahr erzeugen kann wie eine präzise Ecke oder ein Freistoß.

Laut dem Statistikanbieter Opta ist die Anzahl der langen Einwürfe in den gegnerischen Strafraum in der Premier League in den letzten neun Jahren stark angewachsen: von 1,5 auf 4,1 pro Begegnung. In dieser Saison sind in 110 Ligaspielen bereits 11 Tore gefallen – was bedeutet, dass etwa in jedem zehnten Match jemand nach einem langen Einwurf erfolgreich ist.

Jürgen Klopp als Förderer

Doch für Thomas Gronnemark ist die Kunst des Einwurfs komplizierter. Das Spielgerät soll nicht nur möglichst weit geschleudert werden – sondern auch möglichst clever. "Es gibt zwei Arten von Einwürfen: Lange Einwürfe, die an Eckbälle erinnern und einen Weltklasse-Einwerfer erfordern. Und schnelle, clevere Einwürfe, die überall auf dem Platz vorkommen, eher ein halb-offenes Spiel sind", sagte der Däne im Flashscore-Gespräch.  

Gronnemark – in jüngeren Tag Sprinter, Basketballer und Bobfahrer – hält bis heute den Guinness-Weltrekord für den längsten Einwurf (51,33 Meter). Seit rund zwanzig Jahren verdingt er sich als Spezialtrainer in diesem Bereich.

Große Bekanntheit hat er durch seine fünfjährige Amtszeit beim FC Liverpool erlangt. Jürgen Klopp höchstpersönlich hat sich für seine Verpflichtung eingesetzt. Bereits in seiner zweiten Saison an der Anfield Road hat der Kulttrainer erkannt, dass Einwürfe mit hohem Druck bei vielen gegnerischen Mannschaften eine Schwachstelle darstellen. 

Einwürfe "kein kleines Detail"

Etwa "15 bis 20 Sekunden" habe der einwerfende Spieler Zeit, um sich einen Überblick zu verschaffen, so Gronnemark. Zudem müssen sich die Mitspieler richtig positionieren, um die Erfolgschance zu erhöhen: "Kreativität und Entscheidungsfindung sind entscheidend."

Verlieren Teams nach einem Einwurf "den Ball, nehmen Kommentatoren und Fans das häufig einfach zur Kenntnis. Aber das ist ebenso ein Ballverlust wie im laufenden Spiel. Bei 40 bis 60 Einwürfen pro Partie ist das ein bedeutender Aspekt im Fußball – kein kleines Detail. Bessere Einwürfe können großen Einfluss auf das Ergebnis haben", erklärt Gronnemark.  

Überraschungseffekt

Lange Einwürfe werden immer beliebter – doch einige Experten weisen darauf hin, dass schnelle Einwürfe meistens noch effektiver sein können. Denn ein langer Einwurf beansprucht viel Zeit, bis sich alle Spieler in den richtigen Positionen einfinden. Somit hat auch die gegnerische Abwehrreihe viel Zeit, um sich auf die Defensivarbeit zu konzentrieren.

Schnelle Einwürfe stellen oft die größere Überraschung – und somit auch größere Bedrohung – dar. Aber, schränkt Gronnemark ein, "das Wichtigste ist, wohin man den Ball wirft und wie gut die Spieler den Raum wahrnehmen. Das Schlimmste ist, ihn schnell in eine Zone zu werfen, in der hoher Druck herrscht." 

Tempo allein bringe gar nichts. Entscheidens sei, "zu wissen, wann Schnelligkeit gefragt ist – und wann man lieber warten sollte, bis sich eine Lücke auftut. Topteams trainieren durch Übungen, durch ihre Laufwege Räume zu schaffen und die Erfolgschancen zu maximieren."

Gronnemark hat die Einwürfe revolutioniert – hier arbeitet er für Trabzonspor.
Gronnemark hat die Einwürfe revolutioniert – hier arbeitet er für Trabzonspor.Hakan Burak Altunoz / ANADOLU AGENCY / Anadolu via AFP / Profimedia

Ein langer Einwurf kann (wenn richtig ausgeführt), eine Waffe sein, die einer gut getretenen Ecke in nichts nachsteht. Die Erfolgsfaktoren sind vergleichbar. Von großem Vorteil ist ein guter "Zielspieler", also ein kopfballstarker Mittelstürmer.

Und natürlich braucht es auch einen guten Einwerfer. "Mindestens 34 Meter" sollte dieser schaffen, so Gronnemark: "Viele Teams scheitern, weil ihre Einwerfer nicht genug Weite oder Optionen haben. Wenn du nur bis zum Fünfmeterraum kommst, sinken deine Chancen und du hast weniger taktische Möglichkeiten."

Zeit und Raum

Mit noch längeren Einwürfen könne man die Anzahl möglicher Strategien erhöhen und somit die gegnerische Abwehr vor Probleme stellen. "Je weiter der Einwurf, desto mehr potenzielle Zielspieler und taktische Flexibilität", fasst Gronnemark seine Sichtweise zusammen.

Taktische Vielfalt sei ein häufiger Fehler vieler Mannschaften. Viele Teams würden in den Daten "höhere Erfolgsquoten bei langen Einwürfen in Tornähe" sehen und das Mittel kopieren – ohne das dahinter stehende Prinzip zu begreifen.

"Ohne das Beherrschen von Raumgewinn und Strategie sind lange Einwürfe selten effektiv“, betont Gronnemark: "Lange Einwürfe müssen gezielt trainiert werden. Das ist kein einfacher Weg zum Erfolg. Wer nicht Weltklasse bei langen Einwürfen ist, sollte intensiver an der Raumgewinnung arbeiten."

Eine besondere Situation

Ein weiteres Thema: Im Gegensatz zu Ecken verlassen Torhüter selten die Linie, um den Ball abzufangen – was wohl daran liegt, dass die Zielbereiche extrem dicht besetzt sind. "Wenn der Ball in einen Bereich mit sechs oder sieben Spielern kommt und verfehlt wird, ist das Risiko eines Gegentors enorm", erläutert Gronnemark.

Giorgi Mamardashvili scheute sich nicht, aus dem Tor zu kommen, um einen langen Einwurf zu verteidigen.
Giorgi Mamardashvili scheute sich nicht, aus dem Tor zu kommen, um einen langen Einwurf zu verteidigen.Katie Chan / Actionplus / Profimedia

Der Däne erklärt, dass es beim Verteidigen von langen Einwürfen um mehr geht als nur enge Manndeckung. Offene Räume müssen geschlossen werden, "Verteidiger müssen zusammenarbeiten, um die kleinen Zonen zu schließen, die Angreifer für zweite Bälle nutzen wollen. Die Kunst liegt darin, Lücken in Echtzeit zu erkennen und zu schließen. Teams brauchen die Fähigkeit, Räume zu beobachten und zu schließen, um effektiv zu verteidigen."

Ein Blick auf das Regelwerk offenbart einen weiteren Vorteil von Einwürfen – es gibt kein Abseits. Das wird nach der Einschätzung von Gronnemark auch künftig so bleiben: "Das Fehlen der Abseitsregel macht das Spiel offener, kreativer und lebendiger. Würde man das ändern, wäre es für die Fans weniger unterhaltsam."

Viel zu kompliziert?

Manche Fans der alten Schule haben das Gefühl, dass das Zerpflücken von immer mehr Details ihrem geliebten Fußball den Spaß nimmt. Zudem gewinnen sie den Eindruck, dass die Spieler mit Informationen überladen werden.

Wer einen Verein auf hohem Niveau bemerkt häufig, dass der Trainerstab genauso groß ist wie der eigentliche Kader – wenn nicht sogar größer. Für jeden Bereich gibt es einen Spezialisten – und jetzt auch noch einen Einwurftrainer?

"Ich verstehe diese Sichtweise, aber meiner Erfahrung nach sind die Spieler meist motiviert durch das Einwurftraining“, sagt Gronnemark. 

Viele Profis betrachten es als Challenge oder Spiel – denn wer möchte nicht der Spieler sein, der am weitesten einwerfen kann? Zudem sprechen die Erfolge für sich. Nachdem Gronnemark zum FC Liverpool gekommen ist, entwickelten sich die Reds das Team vom ewigen Mitfavoriten zum Champions-League-Sieger.

Zuhören und lernen

Natürlich lag das nicht nur an den Einwürfen. Aber es war einer der Punkte, die Jürgen Klopp verbessern wollte. Der Deutsche habe Einwürfe früh "als Schwäche erkannt. Als er mich dem Team vorgestellt hat, erklärte er direkt, warum er mich geholt hat, wobei ich helfen kann und zeigte seinen Glauben in mich. So haben die Spieler mir sofort vertraut."

Gronnemark ist überzeugt, dass eine von Klopps wichtigsten Eigenschaften dabei geholfen hat, dass er an der Merseyside erfolgreich arbeiten konnte. Die Trainerlegende sei nicht "nur ehrgeizig, charmant und humorvoll – sondern auch ein großartiger Zuhörer. Er hat mir völlige Freiheit beim Einwurftraining und der Analyse der Mannschaft gegeben. Er war offen für neue Ideen und hatte keine Angst, Kontrolle abzugeben, wenn jemand anderes mehr Fachwissen hatte."

Neugier und Offenheit, das ist sich Gronnemark sicher, sind "der Schlüssel zu Verbesserung". Auch, aber nicht nur bei Einwürfen.